Bundestag ändert Gesetzesgrundlage

Streitthema Bezahlung: VW-Betriebsratsmitglieder gewinnen schon mehr als 50 Klagen

28.06.2024 | Auch in zweiter Instanz bereits fünf gewonnene Fälle – Bundestag votiert einstimmig für neues Gesetz

Das Landesarbeitsgericht in Hannover.

Verfahren um die Betriebsratsvergütung in der VW AG: Stand Ende Juni 2024 ergingen an Arbeitsgerichten 54 erstinstanzliche Entscheidungen. In 51 Fällen gewannen die Betriebsratsmitglieder. In zweiter Instanz, am Landesarbeitsgericht, steht es 5:0.

Das Wichtigste in aller Kürze:

  • Seit 2023 gibt es bei VW in etlichen Fällen juristische Auseinandersetzungen um die Betriebsratsvergütung
  • Auslöser ist ein umstrittenes Gerichtsurteil, in dessen Folge Arbeits- und Strafrecht massiv kollidieren 
  • So entstand ein Dilemma: Arbeitsrechtlich ist etwas geboten, was strafrechtlich ein Risiko bedeuten kann  
  • Wegen strafrechtlicher Befürchtungen hat Volkswagen daher etlichen Betroffenen die Vergütungen gekürzt
  • Die Betroffenen klagten dagegen - und zwar sehr erfolgreich, denn sie gewannen bisher in 95 Prozent der Fälle
  • Nun hat der Bundestag eine gesetzliche Neuregelung verabschiedet - mit einstimmigem Abstimmungsergebnis

 

Wolfsburg – Der akute gesetzliche Reformbedarf für die Betriebsratsvergütung ist so offensichtlich wie nie zuvor. Das zeigt die anhaltende rechtliche Unsicherheit in vielen Unternehmen, darunter Volkswagen, wo Betriebsratsmitglieder gegen Entgeltkürzungen ihres Arbeitgebers klagen. Nun hat der Gesetzgeber eine wichtige Etappe genommen, um für die Zukunft mehr Rechtssicherheit in das Thema zu bringen: Am heutigen Freitag verabschiedete der Bundestag eine gesetzliche Neuregelung für die Betriebsratsvergütung. Sie soll helfen, künftig die aktuell noch bestehenden juristischen Risiken zu minimieren. Das Parlament in Berlin votierte einstimmig für die Gesetzesanpassung. Eine solche fraktionsübergreifende Klarheit, die Opposition inbegriffen, ist selten.

 

Hintergrund des Themas: Nach einem umstrittenen Urteil des höchsten deutschen Strafgerichts (BGH) Anfang 2023 hatten viele Unternehmen, darunter Volkswagen, vorsichtshalber die Bezahlung bei einem Teil der Betriebsratsmitglieder reduziert – aus Sorge, womöglich mit dem Strafrecht in Konflikt zu geraten. Dadurch verloren etliche Betriebsrätinnen und Betriebsräte Geld, teilweise trafen sie die Rückstufungen empfindlich. Dabei gilt: Die Vergütung der Betriebsratsmitglieder in der Volkswagen AG war schon vor den Entgeltreduzierungen nach dem BGH-Urteil ein Spiegel der Belegschaft insgesamt (98 Prozent der VW-Betriebsratsmitglieder sind im Tarif vergütet – gegenüber 96 Prozent bei der Gesamtbelegschaft). Auch das Durchschnittsentgelt im Betriebsrat lag bereits vor den Reduzierungen auf dem Niveau der gesamten Belegschaft.

In der Bundestags-Aussprache zu dem neuen Gesetz ging der für die Neuregelung zuständige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil am Freitag auf die Probleme ein, für die das BGH-Urteil gesorgt hatte. Er sagte: "In einer Reihe von Fällen haben Unternehmen aufgrund dieser Unsicherheiten die Vergütung von Betriebsräten herabgesetzt. Damit machen wir jetzt deutlich Schluss. Wir sorgen für Rechtssicherheit.“

 

Nach den Anfang 2023 vorgenommenen Entgeltkürzungen klagten die Betroffenen reihenweise gegen das Vorgehen der Arbeitgeberseite, die sich zu den Entgeltreduzierungen gezwungen sah. Nun, rund anderthalb Jahre nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH), spricht die Bilanz zu dieser Klagewelle aus der Volkswagen AG eine eindrucksvolle Sprache: Von den bisher 54 Entscheidungen der Arbeitsgerichte aus der ersten Instanz haben die Betriebsratsmitglieder 51 Fälle gewonnen und nur 3 verloren. Rechnerisch ausgedrückt entspricht das mehr als 94 Prozent Erfolgsquote. Oder anders ausgedrückt: In mehr als 9 von 10 Fällen hat VW für die vorgenommene Vergütungskürzung keine Bestätigung durch die Gerichte erhalten können.

 

In der zweiten Instanz, also auf Ebene der Landesarbeitsgerichte (LAG), sind bisher fünf Urteile in Hannover ergangen. Ergebnis: In allen fünf Entscheidungen gewannen die Betriebsratsmitglieder. Vier erhielten damit eine Bestätigung ihres Sieges aus der ersten Instanz. Bei einem Fall drehte sich das Urteil am LAG zugunsten des Betriebsrates - es handelte sich nämlich um einen der ganz wenigen verlorenen Fälle aus erster Instanz. Insgesamt, also aus erster und zweiter Instanz zusammen, steht es somit inzwischen 56:3 für die VW-Betriebsratsmitglieder gegen ihren verklagten Arbeitgeber, die Volkswagen AG. Aus Angst vor dem Strafrechtsrisiko und im Bemühen um größtmögliche arbeitsrechtliche Sicherheit lenkt Volkswagen die Fälle aber weiter durch die Instanzen.

 

Einer der fünf am LAG entschiedenen Fälle ist inzwischen am Bundesarbeitsgericht (BAG) anhängig (BAG-Aktenzeichen 7 AZR 46/24, LAG-Aktenzeichen 6 Sa 559/23, Urteil vom 8.2.2024, hier die Pressemitteilung dazu). In diesem Fall, der nun als erster beim BAG verhandelt werden dürfte, geht es um ein Betriebsratsmitglied aus Wolfsburg, das schon seit mehr als 20 Jahren für die Arbeit in der Belegschaftsvertretung freigestellt ist. Gestritten wird sich um zwei Entgeltstufen aus dem Tarifbereich (wir berichteten).

 

Das höchstrichterliche Verhandlungsdatum dafür dürfte, mit Blick auf die zeitlichen Erfahrungswerte der BAG-Terminierungen, für die erste Jahreshälfte 2025 wahrscheinlich sein. Ob Volkswagen alle Entscheidungen aus den Landesarbeitsgerichten weiter bis vors BAG zieht oder sich alternativ auf eine Auswahl beschränkt, ist bisher noch nicht absehbar. Entscheidend dafür ist immer auch die jeweilige schriftliche Urteilsbegründung, die bisher nur im ersten ergangenen LAG-Urteil (6 Sa 559/23) vorliegt.

 

Längere strafrechtliche Vorgeschichte zur Betriebsratsvergütung

 

Das Thema Betriebsratsvergütung hatte Volkswagen strafrechtliche Ermittlungen eingebrockt – denn verantwortlich für die Festlegung der Betriebsratsvergütung ist das Unternehmen. Es gab in diesem Zuge auch mehrere Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft. Ein Strafprozess gegen frühere Personalverantwortliche aus dem VW-Konzern endete am Landgericht Braunschweig 2021 mit Freisprüchen. Doch die Staatsanwaltschaft zog weiter zum BGH. Der bemängelte das Urteil aus Braunschweig, hob die Freisprüche Anfang 2023 wieder auf und verwies den Fall zurück zur neuerlichen Verhandlung ans Landgericht. Mit dieser Entscheidung machte der BGH auch Ausführungen zum Vorgehen bei der Betriebsratsvergütung generell. Das ist der Auslöser für die breite Reaktion seitens Volkswagen und die Entgeltkürzungen bei einigen Dutzend Betriebsratsmitgliedern – was die dagegen klagen ließ. In der gesamten Volkswagen AG arbeiten insgesamt knapp 300 Betriebsratsmitglieder. Die ganz große Mehrheit von ihnen ist von dem juristischen Tauziehen also nicht betroffen, weil die Art ihrer Vergütungsfestlegung von dem BGH-Urteil nicht berührt ist.

 

Wann der Strafprozess in Braunschweig gegen die früheren Personalverantwortlichen nach der Retour durch den BGH wieder aufgenommen wird, ist noch nicht bekannt. Fest steht aber inzwischen: Aus der Perspektive des Arbeitsrechts jedenfalls ist die breite Reaktion von Volkswagen auf das BGH-Urteil falsch gewesen. Diese Bilanz mit 95 Prozent Erfolgsquote für den Betriebsrat ist inzwischen schließlich in mehr als 50 Fällen amtlich „Im Namen des Volkes“. Trotzdem bleibt die Rechtsunsicherheit bisher: Arbeitsrecht und Strafrecht kollidieren massiv.

 

Persönlich, aus der Perspektive der Betroffenen, stellt die Situation eine nunmehr rund anderthalb Jahre lange Hängepartie dar. Das Entgelt war in einigen Fällen teils erheblich reduziert (wir berichteten), was insbesondere Hauptverdiener in Familien vor soziale Härten stellte. Der juristische Streit umfasst in einigen Fällen zudem auch Ansprüche nach Beendigung des aktiven Arbeitsverhältnisses. Nach erfolgreichen Klagen hebt Volkswagen die Vergütung der Betriebsratsmitglieder zwar wieder zurück auf das frühere Niveau – das steht jedoch noch unter Vorbehalt, und zwar solange die Fälle weiter durch die Instanzen der Gerichte laufen.

 

Auslöser der beispiellosen Situation rund um die Vergütung der Belegschaftsvertreter ist der Umstand, dass arbeitsrechtlich ein Vorgehen festgeschrieben ist, das parallel ein strafrechtliches Risiko darstellen kann. Eigentlich darf ein solcher Zustand der Unsicherheit in einem Rechtsstaat nicht auftreten. Denn es kann nicht zivilrechtlich (also arbeitsrechtlich) etwas nötig sein, was gleichzeitig strafrechtlich verboten sein könnte. Doch genau dieser Umstand ist eingetreten. Ursächlich dafür ist, dass der BGH als höchste Instanz für Strafsachen bestimmte Konstellationen für die Betriebsratsvergütung komplett anders auslegt als es das Bundesarbeitsgericht (BAG) seit vielen Jahren macht – und zwar, obwohl das BAG in der Sache fachlich eigentlich die zuständige höchstrichterliche Instanz ist. Trotzdem überwiegt für die Unternehmen derzeit im Zweifel die Sicht des BGH. Leidtragende sind die Betroffenen.

 

Denn entstanden ist ein Dilemma: Zu den strafrechtlichen Konsequenzen kann nämlich der Straftatbestand Untreue gehören, womit es die Verantwortlichen auf der Unternehmensseite mit Geldbußen und theoretisch sogar mit Gefängnisstrafen zu tun bekommen könnten. Auch ein entsprechender Imageschaden droht. Derartige Risiken gilt es natürlich, vom Unternehmen abzuwenden – dazu sind die Zuständigen bei Volkswagen verpflichtet. Arbeitsrechtlich dagegen ist das Schlimmste, was den Unternehmensverantwortlichen passieren kann, dass die Betroffenen die Unternehmen verklagen. Also hat Volkswagen letzteren Weg eingeschlagen. Und neben Volkswagen viele weitere Unternehmen.

 

Zwei Kammern am Landesarbeitsgericht Niedersachsen haben die Verhandlungen genutzt, um sich bei dieser Gelegenheit ausführlich zum BGH-Urteil zu äußern. Tenor dieser Ausführungen: Am BGH ging es um außergewöhnliche Einzelfälle, nämlich um Betriebsratsvergütungen aus dem Managementbereich in deutlich sechsstelliger Höhe pro Jahr. Diese Fälle, in denen sich die Betroffenen im Laufe ihrer Betriebsratstätigkeit sehr weit von ihrer ursprünglichen Entgelthöhe vor der Wahl ins Mandat entfernten, haben nichts gemeinsam mit den Fällen, die jetzt am Landesarbeitsgericht (LAG) landeten. Denn dabei ging es um Entwicklungen im Tarifbereich.

 

War Volkswagen mit seiner Reaktion auf das BGH-Urteil Anfang 2023 also übervorsichtig und überzog? Diese Position kann man einnehmen, auch am LAG klang das an. Fakt ist aber: Die Vergütungen sind gekürzt, die Klagen losgerollt. Und die Unsicherheit herrscht längst mit juristischem Gezerre deutschlandweit. Um sie zu beenden, ist inzwischen der Gesetzgeber aktiv geworden: Im März 2024 befasste sich der Bundestag erstmals mit dem Plan, die Vorgaben für die Betriebsratsvergütung anzupassen. Quer durch die Parteien im Parlament gab es dafür große Zustimmung (hier geht es zu den Reden). Nach diesem großen Zuspruch ging das neue Gesetzesvorhaben wie üblich in den zuständigen Fachausschuss und im April äußerten sich externe Fachleute dort. Auch dabei herrschte Einigkeit zum akuten Reformbedarf und Sachverständige kritisierten, dass die Situation für Angriffe auf Betriebsräte ausgenutzt werde (hier geht es zum Mitschnitt der Sitzung und zur Sammlung der schriftlichen Stellungnahmen).

 

Der nächste Schritt erfolgte nun am Freitag: Der Bundestag verabschiedete das neue Gesetz abschließend. Allerdings muss das Vorhaben nun noch die Länderkammer Bundesrat passieren. Das steht bereits für Freitag, den 5. Juli an (als Tagesordnungspunkt 56). 

Der weitere Weg wäre dann so: Nach der Länderkammer unterschreiben der zuständige Fachminister und der Bundeskanzler und dann prüft, wie üblich, noch einmal der Bundespräsident. Wenn das alles geschehen ist, erscheint das Gesetz im sogenannten Bundesgesetzblatt und tritt dann darüber in Kraft. 

Ob sich die Gesetzesnovellierung womöglich auf laufende Verfahren auswirkt, bleibt abzuwarten. Fachleute rechnen eher mit positiven Folgen für die Zukunft, weniger für die Vergangenheit. Allerdings haben Gerichte bei ihren Urteilsbegründungen auch aktuell schon auf den Gesetzesentwurf Bezug genommen. 

 

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Volkswagens Gesamtbetriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo hatte ihre Vergütung 2021 kurz nach Amtsantritt in einem Interview mit der ZEIT offengelegt. An diesem Niveau ihrer Vergütung hat sich seither nichts geändert. Sie ist von den Kürzungen des Unternehmens nicht betroffen, weil das BGH-Urteil auf ihre Art der Vergütungsfestlegung keinen Einfluss hat.

Cavallos Bilanz lautet:

"Im Betriebsrat brauchen wir kreative, leistungsbereite und empathische Menschen, die etwas bewegen wollen. Auf sie und ihren Draht zur Belegschaft kommt es entscheidend an, gerade wenn in Zeiten der Transformation Themen vermittelt werden müssen. Dabei ist es eine Kernaufgabe, für unsere Arbeit neue Talente zu gewinnen und vorhandene langfristig binden zu können. Nur so bleibt eine starke Mitbestimmung lebendig, von der die Belegschaft und nicht zuletzt auch das Unternehmen profitieren. Inzwischen ist aber die rechtliche Unsicherheit in Sachen Betriebsratsvergütung derart groß, dass Arbeits- und Strafrecht massiv kollidieren. Dabei war die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts immer eindeutig: Für Betriebsratsmitglieder muss es unter bestimmten Umständen und mit klaren Regeln möglich sein, eine faire berufliche Weiterentwicklung auch hypothetisch fortgeschrieben zu bekommen. Das muss weiter vorhanden bleiben. Doch dieses Feld ist inzwischen strafrechtlich derart vermint, dass die Arbeit im Betriebsrat im Zweifel zur beruflichen Sackgasse wird. Bei Volkswagen haben wir deswegen schon manches Betriebsratsmitglied verloren und einige Talente gar nicht erst neu gewinnen können. Auf Dauer wäre ein solcher Zustand Gift für die Mitbestimmung. Umso mehr begrüßen wir, dass die Ampel-Koalition das Thema gesetzliche Neuregelung nun auf den Weg gebracht hat - mit einem Ansatz, der den bisherigen Kurs des Bundesarbeitsgerichts klar berücksichtigt."

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